Die eigentliche Ursache ist nicht bekannt. Ich möchte den Vorfall auch nur euch erzählen. Es könnte sonst sein, dass Hans und ich für den Schaden belangt werden. Wir waren es aber nicht, wir waren nur dort. Tatsache ist, dass es den Wackelstein, Millionen von Jahren alt, jetzt nicht mehr gibt. Nicht mehr als Wackelstein, jedenfalls.
Irgendwann hatten Hans und ich einander nichts mehr zu sagen. Ein nichtiger Streit, den Grund hatten wir schon vergessen, das Schweigen hielt an.
Wichtiges teilten wir einander auf Zetteln mit. "Strom ablesen", schrieb ich. Mit dem Selbstablesen kennt er sich besser aus. "Konto prüfen", schrieb er. Das Geld verwaltete ich.
"Reden wir wieder?", schrieb ich und legte den Zettel auf seinem Kopfpolster. "Ja", stand auf dem Zettel, den ich auf meinem Polster fand. "Aber wo?"
Um einen Streit beizulegen, tut ein Ortswechsel gut. Darüber verloren wir beide kein Wort.
Es gibt Regionen, die bieten sich zum Vergessen an. Das Waldviertel ist eine davon. Es gibt hier besondere Orte, Kraftplätze, mystische Steine, niemand begegnet dir, Kilometer weit. Inmitten der Stille betrachtest du, zum Beispiel, einen Baum. Es ist wenig, was der Mensch braucht, sagt dir der Baum, etwas Nahrung, Licht und viel Zeit.
Was ist besser, um neu zu beginnen, als der Verzicht? Hans und ich haben jeder ein eigenes Zimmer im Kloster, wir essen die Suppe mit Andacht. Am siebenten Tag schweigen die Stimmen in mir. Das ist gut so, besonders am gemeinsamen Schweigetag. Wir haben frei, nur reden dürfen wir nicht. Aus dem Wald wähle ich einen Baum und betrachte ihn, stundenlang. Langsam lasse ich los, mein Ich wird eins mit der Welt. Ich nehme das Geräusch eines Traktors in mir auf. Langsam tuckert meine innere Gier in den Nebel hinaus. Mein Ich schwebt frei im Raum. Im Raum verschwindet die Zeit. Ist es das Knistern der Daunenjacke, ist es das brennende Holz im Fastenkurs¬raum¬kamin? Es ist angenehm warm.
Gelächter erfüllt den Raum, es ist ein Innenraum, in dem mein Ich sagenhaft leicht schwebt, eins wird mit einer Geschichte, die gerade erzählt wird, im Plenum der Fastengruppe, vom gemeinsamen Schweigetag. Es ist Hans, der erzählt.
Es sei ihm gelungen loszulassen, er sei seinen eigenen Schritten gefolgt, doch habe ihm im Nebel alleine der hoch oben rotierende Billa-Sack den Weg gewiesen, so dass er Durst bekommen habe. Schweigen könne man auch im Supermarkt habe er sich gedacht und auch das Bedürfnis nach Vertrautem verspürt. Er habe einen Ort distanzierter Nähe gesucht. In seinem Inneren habe, nach Tagen des Fastens, des Kloster¬schweigens und der Wochen feindlichen Schweigens mit mir, großes Chaos geherrscht. An einen Ort habe es ihn gedrängt an dem die Dinge an bekannten Plätzen sind. Er habe genug gehabt, von der Landschaft, dem Nebel, der Stille. Schon die vergangenen Tage habe er sich gefragt, ob das mit dem Zettel-schreiben nicht verrückt wäre. Er habe von mir gedacht, ich verstünde ihn und die einfachsten Dinge nicht. Er müsse sich nun, und er danke der Fastengruppe für das Zuhören, er müsse sich bei mir entschuldigen. Er habe von mir gedacht, ich sei, na ja, ein wenig beschränkt. Ich hätte ihm eines Tages statt auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu geben, einen Zettel geschrieben. "Wo ist das Essen?" habe er gefragt und er entschuldige sich, in diesem Rahmen von Essen zu reden, ich habe ihm ein Stück Papier mit den Worten "im Kühlschrank" auf den Tisch gelegt. Er wisse nun, sagte Hans in der Feedbackrunde, dass unser Eheproblem kein Individuelles alleine wäre. Er habe hier, beim Spazieren im Wald, gemerkt, dass auch andere im täglichen Mit¬einander Probleme haben. Die unseren seien gering, blicke man über den Tellerrand, sehe man, wie groß die Schwierigkeiten anderer sind. Ob man in dieser Region daheim einander auch Zetteln schreibe, wisse er nicht, er wäre hier in keinem Haus gewesen. Er denke aber schon, denn wenn Leute einander im Freien die simpelsten Dinge auf Schildern sagen, teilen sie sich auch daheim die einfachsten Dinge auf Zetteln mit. Denn als er damals, als bei uns das Schweigen begonnen hatte, den Kühlschrank geöffnet habe, sei kein Essen drinnen gewesen, nur Milch, Gemüse und rohes Fleisch. Er denke daher, wo die Leute "Genussregion" hinschreiben, müsse es mit dem Genuss schwierig sein. Er habe überhaupt Zweifel, ob hier, außer bei Billa, noch Grundnahrungsmitteln vorhanden sind. Er entschuldige sich, dass er so wirr rede, aber er habe jetzt, nach sieben Tagen Fasten, leicht irre Gedanken. Könne es sein, dass die Leute hier "Erdäpfelland" auf Schilder schreiben, weil vielleicht gar keine Erdäpfel da sind? Es sei ja auch hier im Fastenkloster so, dass man an nichts anderes denke als an Essen.
Es gibt Dinge an Hans, die schwer erträglich sind. Innere Einkehr ist ihm fremd. Kaum hatten Hans und ich wieder miteinander zu reden begonnen, kam es wieder zum Streit.
Es war am achten Fastentag und ich fühlte mich stark wie eine Bärin und leicht wie eine Feder zugleich. Hans und ich gingen spazieren im Wald. Um zwölf Uhr war Suppe, wir waren schon auf dem Weg zurück. Hans redete und redete, ich versuchte es mit der Bildmeditation. Dazu wählte ich einen Baum, hatten wir ihn erreicht, nahm ich den nächsten, ab und zu sagte ich "Ja." manchmal ein "Nein."
Dann waren die Markierungen weg. Die Wegkreuzung bot drei Optionen: Ich wollte nach rechts, er nach links. Wir liefen geradeaus. Kurz vor zwölf kamen wir an die Kreuzung zurück und wählten den Weg nach rechts. Zurück an der Kreuzung kurz vor eins gingen wir links. Der Wald kommt einem tief vor, wenn man im Kreis läuft. Doch siehe da, eine Lichtung. "Zum Glück", sagte Hans, "gibt es das Lagerhaus, an dem man sich orientieren kann."
Nicht das Lagerhaus aber war es, das wir in der Ferne sahen. Das graue Ding war niedriger und leicht gewölbt. Als wir dann vor ihm standen wackelte es. Zwei Rabenkrähen saßen oben, die schwarzen Flügeln leicht gehoben. "Kra", sagte die linke und "Kra" wiederholte die rechte. "Ein Wackelstein", sagte Hans, "ein Wackelstein, wie er im Buch steht." Elegant zogen die beiden Krähen einen Kreis über dem wackeligen Stein mitten im Wald. "Plopp", machte es auf der linken Oberkante des Steines.
"Bumm", sagte Hans. "Die Krähen müssen hier ganz schön fressen, wenn sie so viel ..." "Plapp", machte es jetzt oben rechts. Ob der Vogelkot allein den Stein gekippt hat, weiß ich nicht.
Falls jemand den Vorfall doch weiter erzählen will: Hans ist nicht schuld. Und ich schon gar nicht.
© Gabriele Müller - 04/2020
Quelle: Kloster Pernegg
Text: © Gabriele Müller 04/2020
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Waldstaude Sonnenuntergang Kloster Pernegg © Beate Vollerthun
Aufbrechen - Ausblicken - Kloster_Pernegg © Zickbauer Natascha
Blume gelb Kloster Pernegg © Zickbauer Natascha
Brennendes Herz Kloster Pernegg © Beate Vollerthun